Sonntag, 18. März 2012

Retro-Reisebericht: St. Petersburg 1995, Teil 2/2

Teil 2
Kinder zeichnen besser als wir, Einheimische laden uns zum trinken ein und so sieht ein Gewehrlauf von innen aus

Wir fuhren mit der Metro. Am Schalter kauft man sich eine Münze, die man vor der Rolltreppe einwirft.  Damit kann man fahren, solange man will. Die Rolltreppe fährt flott und tief nach unten. Bei uns wäre dieses Tempo bestimmt verboten. Die Stationen selbst sind sehr schön, mit großen Leuchtern, schicken Steinplatten verkleidet, golden glänzenden Schriftzügen, als „Palast des Volkes“. Die Züge waren weit weniger vornehm und elegant, es rumpelte und ratterte durch die gekippten Fenster.
Wir stiegen aus. Über der Station standen etwa ein Dutzend Kiosk-Häuschen. Dort kauft man alles Notwendige: Getränke, Nudeln, Zahnpasta, Schnaps, was auch immer. Doch heute gab es eine Aktion: Zwei Männer stapelten Kartons mit Bananen und verkauften sie über die Schachteln hinweg. Abseits der Straße standen immer wieder Leute mit drei Flaschen Bier vor sich. Man kann ja mal herumstehen und verschnaufen. Natürlich waren sie zum Kauf. Tausend Rubel war der Touristenpreis, 30 Pfennig.
Vor einem Fast-Food Restaurant, ein einheimischer Laden, stand ein Rentner vor der Tür und hielt die Hand auf. Wer Geld für schickes Fast-Food hatte, der hatte auch Geld für ihn.

Der Bus fuhr uns zum Abendessen in ein anderes Hotel. Das Essen war undefinierbar, paniert, in würziger Soße uns schmeckte gut. Außerdem hatten wir Hunger. Nur drei mal gab es Fleisch in uns bekannter Konsistenz. Das hier war faserig, wir tippten auf Ratte oder Schwan. Das andere eher etwas glitschig, das Dani, eine Kroatin, an Schlange erinnerte. Geschmeckt hatte es gut.

Mit dem Tragflügelboot ging es am nächsten Tag nach Peterhof. Die barocke Schlossanlage, 30 km westlich der Stadt, hatte Zar Peter I bis 1723 als Sommerresidenz errichten lassen. Hauptattraktion sind die Wasserspiele - Fontänen, deren Wasser in einer Art Treppe abläuft und sich als Kanal durch den Schlosspark zieht. Der Eintritt ins Schloss kostete extra, die barocke Pracht sprach nicht jeden an. Also bummelten wir durch den Park, sahen auch hier Uniformierte laufen. Bei uns wäre es hier voll mit Eisbuden und Souvenirläden, doch hier keine Spur. Immer wieder sahen wir Kinder, um die zehn Jahre alt, die sich mit Papier und Stiften ins Gras hockten und Ansichten zeichneten - viel besser als wir es je könnten. Das machen also Kinder in Russland, während sie bei uns vor der Playstation sitzen.





Zurück in der Stadt besuchten wir das Russische Museum, im Marmorpalast. Alle Fenster standen offen, kaum ein Lüftchen brachte Abkühlung durch die alten Vorhänge. In jedem Raum standen oder saßen ein bis zwei ältere Damen und passten auf. Trotz dieser ungewohnt hohen Dichte waren die Besucher noch in der Überzahl.

Doch bei diesem Wetter musste man einfach raus und durch die Straßen bummeln. Die Sonne stand schräg, aber auf dieser schiefen Bahn „eierte“ sie 20 Stunden. Ganz oben, wie wir es mittags kennen, stand sie nie.
Entlang der Kanäle lässt es sich schön flanieren. Straßen und Gassen sind voll Menschen, man folgt seiner Nase, schon ist eine Stunde verbummelt.
Zeit für eine Stärkung. Um die Auferstehungskirche gab es damals ein paar Restaurants, die damals noch rar gesät waren. Wir gingen ins Subterrain und wurden von deutscher Gemütlichkeit empfangen: Blau-weiße bemalte Kacheln, Holzmöbel, Flensburger Bier, Hering, Kartoffelsalat. Wer damals essen ging, konnte es sich leisten. Ein großes Bier kostete umgerechnet 8 DM, das Lokal hatte eine eigene Wechselstube. Nach einer Schreckminute endlich die erlösende Ansage: Wir trinken jeder ein Luxus-Bier, das macht uns nicht arm. Dann zahlen wir und gehen.

Auferstehungskirche, kurz vor Mitternacht

Lieber im Luxus-Supermarkt um die Ecke unseres Hotels nach einer Nachspeise schauen. Dazu mussten wir in den Innenhof dieser Häuser, die zur Straße hin ordentlich aussahen. Hier lag eine beeindruckende Halde aus Ziegeln, die früher in der Wand oder dem Torbogen steckten. Ein Junge hielt seine Hand auf, wir gaben ihm 800 Rubel, etwa 20 Pfennig. Er freute sich über soviel Geld. Im Laden gab es nur Luxus- und Importware: In Folie verpacktes Weißbrot, englischer Wodka, polnisches Dosenbier (Letzteres 80 Pfennig).

Tags drauf standen Eremitage und ein klassisches Konzert auf dem Programm. Flo und ich hatten aber Angst vor einem „Raumluft-Koller“, nach so viel Zeit draußen. Wir schlenderten alleine los.
Mit der Tram zur Endstation, zu Fuß zurück, oder so ähnlich. Flo wollte einen Fahrschein kaufen, was deutlich mehr Probleme machte als schwarz zu fahren. Der Fahrer gab ihm etwas wie einen Kassenzettel. Dieser wurde entwertet, indem man ihn in eine Klappe hielt, den Deckel mit fünf Nadeln schloss, und so einen Abdruck in s Papier lochte. Schwankend ging es los. Die Schlaglöcher in der Straße waren teilweise so groß, dass das Gleis sich absenkte und die Tram in bedrohliche Schräglage brachte.
Die Vororte brachten nur eintönige Wohnanlagen. Zeit auszusteigen und die nächste Metro-Station zu suchen, die laut Gratis-Plan hier sein musste. Wir fragten einen Passanten. Er sah aus, als hätte er sich seit Tagen nicht mehr gewaschen, hob kurz seinen Blick vom Boden und deutete stumm auf eine schmutzige Kuppel 20 Meter abseits der Staße. Die Station Grazhdanski Prospekt war kein „Palast des Volkes“ mehr, sondern nur eine Haltestelle. Hier stiegen Hausfrauen in einfachen Sommerkleidern zu, oder Männer in kurzer Hose oder Unterhemd. Ein Bursche wollte seine Angebetete mit einer Steige voll Gemüse beeindrucken. Die Fahrt dauerte lang, eine halbe Stunde etwa. Bei 5 Millionen Einwohnern dehnt sich eine Stadt weit aus.

Zurück im Zentrum schlenderten wir drauf los. Man musste kein Spurenleser sein, um zu erkennen, dass hier eine entgleiste Tram ihre Spur über den Asphalt bis auf den Gehsteig zog. In einer Galerie sahen wir uns Gemälde an, die zum Verkauf standen. Eines zeigte eine auslaufende Uhr, die den Strom der Zeit aufzeigt. Russland hat begnadete Künstler. An der Kasse gab es Fotos der Gemälde zum Kauf.

Zur Teepause fanden wir ganze zwei Möglichkeiten. Ein Café für Touristen, man bekam Getränke in Plastikbechern auf die Holzterrasse serviert. Das andere ein kleines Restaurant, in dem wir einfach „tschai“ bestellten.
Flo wollte Brot kaufen. Der erste Laden hatte aber nur Käse und Fisch. Alles ohne Kühlung, von der Luft konnte man ein Stück herausschneiden.
Im zweiten Laden klappte es. Er stand an der Kasse, deutete aufs Brot und bezahlte irgendwas. Mit diesem Kassenzettel durfte er nochmals anstehen. Am Ende hatte er einen kleinen Kanten Schwarzbrot, für 12 Pfennig.







Abends wollten wir Cola-Wodka trinken. Ich besorgte Cola am Kiosk-Häuschen, unsere Gläser aus dem Bad und schlich über den Gang des Hotels. Ein Russe klopfte vergebens an eine Tür, klagte mir sein Leid. Ich verstand kein Wort, bot ihm Cola an. Er nickte, hob seinen Arm und hatte eine Flasche Wodka in der Hand. Wir tranken. Sein Freund kam, in Uniform, mit MPi umgehängt. Das Gespräch war mir klar, auch ohne die Worte zu verstehen: „Was will der?“ - „Der ist okay, hat mir‘n Schluck angeboten.“
Hin und her, her und hin, „Komm mit!“ Sie kramten in ihren Taschen, ich holte zwei, drei Andere hinzu. So waren wir vier Touristen und drei Russen im Raum, sie tischten Brot, Leberwurst, Bier und Wodka auf. „Welcome to Russia!“
Der Uniformierte weckte seinen Kameraden, der besoffen vor dem Fernseher eingeschlafen war. MTV lief. Der zog zuerst seine Pistole, inspizierte sie. Danach nahm er seine MPi von der Wand, klackerte an der Sicherung, hielt den Lauf genau auf mich gerichtet. Jetzt hieß es Luft anhalten und nicht bewegen - schon gar nicht ruckartig. Mir wurde mulmig. Dann sah er in den Lauf hinein, stellte das MPi zurück an die Wand. „Hallo Jungs, wollt ihr‘n Schnaps?“ Oh ja! Im Trinkglas waren 0,1 l Wodka. Ich nippte, musste husten, trank noch einen Schluck. Gelächter. Natürlich trinkt man das auf einen Zug, ohne das Gesicht zu verziehen. Ich bekam eine Flasche Bier, als Soft-Drink.
Wir verstanden uns prächtig, redeten mit Händen und Füßen. Doch russisch kann man ohne Vorkenntnisse nicht verstehen. Das Wort „Druschba“, für Freundschaft, lernt man aber schnell.

Deutschland und Russland war eine große Freundschaft, vor etwa 200 Jahren, das ist hier präsent. Dazwischen gab es Krieg. Nun will man an die Zeiten der Freundschaft anknüpfen. 

Nach fünf Tagen und Nächten, mit zu wenig Schlaf, stand der Heimflug an. Einheimische wollten Geld tauschen, DM-Münzen gegen Dollar-Scheine. Wechselstuben nehmen nur Scheine, keine Frage.
Schweren Herzens verließen wir ein Stück Europa auf russischem Boden. Keine einzige Befürchtung hatte sich bewahrheitet. Wir trafen nette und herzliche Menschen, große Kunst, bleibende Eindrücke. Wendezeiten sind immer Ausnahmezustand, doch die Menschen hier behielten ihre Würde und menschliche Größe.




München empfing uns mit 15°C und Schauerneigung. Voll Vorfreude fragten uns Leute am Flughafen, woher wir kamen, braun gebrannt oder in kurzen Hosen. Aus Russland. Redet keinen Blödsinn! Nein, das war kein Unsinn. Alles Erzählte ist wahr.

Dass sich in der Stadt mittlerweile viel geändert hat - davon erzählt der nächste Bericht.

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