Sonntag, 18. März 2012

Retro-Reisebericht: St. Petersburg 1995, Teil 1/2

Teil 1
Aeroflot spielt das Lied vom Tod und Obdachlose bedanken sich mit Handkuss

MIt 40 US-$, einer Stange Zigaretten und vielen D-Mark-Scheinen saß ich in einer Tupolev der Aeroflot, Ende Mai 1995. Herr Dietz, Vertrauenslehrer an der BOS Technik (und Reisebüro unseres Vertrauens), suchte Freiwillige für einen Ausflug nach St. Petersburg. Wir waren 20 Leute und hörten das Beruhigungsgedudel an Bord. Als die Tupolev am Rollfeld des Münchner Flughafens kurz vor Start stand, lief ein letztes Stück Musik. Nicht irgendeins, sondern: „Spiel mir das Lied vom Tod“. Aeroflot hob ab.
Eine Stunde später kam der Pilot, setzte sich zu den Passagieren, rauchte eine, sah zu wie sein Flugzeug flog.

Bei so viel Vertrauen in die Technik konnte nichts schiefgehen, also standen wir drei Stunden später zur Passkontrolle an. Einer nach dem anderen durfte antreten, stand vor der Fensterfront des Zollbeamten, der Gesicht mit Foto abglich. Ewig lange zwei Minuten dauerte das „scannen“. Ich konnte sehen, wie der geschulte Blick wanderte: Abstand der Augen, Länge der Nase, Lage und Länge der Wangen, Ohren, Kinn, Hals. Immer wieder brütete er über dem Foto, lernte mein Gesicht. Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher, ehe endlich der Stempel klackerte.






Der Flughafen machte einen imposanten Eindruck, wie auch der Moskovski Prospekt. Er beginnt am Denkmal der Verteidiger Leningrads: In einem Kreisverkehr, mit ca. 100 m Durchmesser, stehen lebensgroße Bronzefiguren, die mit Gewehr im Anschlag, Fliegermütze, Schiene oder Pflug dem Angreifer entgegenmarschieren, jeder seinen Möglichkeiten entsprechend. Eine Säule ragt hoch auf und trägt die Jahreszahlen 1941 und 1945, so lange währte der Krieg für die Russen. Kurz davor steht das alte, metallene Ortsschild „Leningrad“. Staatsgäste und Touristen fahren üblicherweise von den beiden Flughäfen Pulkova 1 und 2 hier vorbei.

Der Moskovski Prospekt ist eine frühe sowjetische Prunkmeile. Die fünfstöckigen Häuser ziehen sich die Straße entlang, thematisch verbunden durch riesige Torbögen, symbolisch getragen von Vierer-Paar Säulen-Reliefs. So wirkt die Straße einheitlich, europäisch, aufgeräumt.  Zur Straße hin sind die Fassaden ordentlich. Es ist der erste Eindruck, der zählt.
Sieht man sich die Rückseite an, fehlen Ziegel in der Wand, die auf einer Halde im Innenhof liegen. Durch vorhanglose Fenster sieht man nackte Glühbirnen, alte Resopal-Tische, Männer mit nackten Oberkörper.







Unser Hotel „Rossija“ (Russland) war im gleichen Stil erbaut, Teppiche und Vorhänge wurden seitdem wohl nicht gereinigt. Die Leuchter am Empfang waren im „Sputnik-Stil“: Metallkugeln, mit unterschiedlich langen Stangen und Glühbirnen an deren Enden, hingen von der Decke.
Auf jedem Stockwerk verwalteten Damen die Ausgabe der Zimmerschlüssel, rund um die Uhr. Nachts lagen sie auf Sofas, man weckte sie und verlangte seinen Schlüssel.

Im Fernsehen gab es vier Programme. Drei waren einheimisch, es wurden nur Berichte verlesen. Der vierte Kanal war MTV.
Ab 17 Uhr hatten wir Kakerlaken im Bad. Überall wo es feucht war, krabbelten sie herum: Waschbecken, Toilette, Badewanne. Weiter wollten sie nicht, wir konnten die Badtür offen lassen. Morgens um fünf waren sie verschwunden, man konnte sich ungestört duschen und rasieren. So einfach war das.

Wir wussten bis dahin nicht genau, wo die Stadt lag. An der Ostsee, klar. Nachmittags um fünf stand die Sonne genau vor dem offenen Fenster, es hatte 30°C bei wolkenlosem Himmel. Um 19 Uhr stand sie weiter links, um 21 Uhr noch weiter links, auf gleicher Höhe. Um Mitternacht sah man sie nur noch, wenn kein Haus davor stand. Um halb eins sank sie unter den Horizont, wich drei Stunden lang der Nacht, kam um halb vier zurück. Somit war klar, auf welcher geografischen Höhe wir uns befanden.

Moskovski Prospekt, 0 Uhr 30
Blick aus dem Zimmer, 4 Uhr morgens


Zeit die Stadt zu erkunden. Das Frühstück bestand aus Kaffee, Brötchen, Käse, Wurst oder Marmelade - damals auch im Westen noch völlig ausreichend. Mir ging es gut. Wir konnten zwar vor eins nicht einschlafen, da es viel zu warm im Zimmer war. Doch vor eins war ohnehin keine Ruhe. Die andere Hälfte der Truppe hatte Zimmer, in denen sie ab sechs Uhr von der Sonne aus dem Bett gebrannt wurden, und war entsprechend zermürbt. Wir bekamen unser Lunchpaket und hielten die Nase hinein. Oh nein, der Geruch haute uns fast um. Dicke Käse-Wurst-Brote rochen atemberaubend. Eine halbe Gurke und eine Flasche russische Cola rissen es nicht raus. Einer meinte, er schenke es einem Obdachlosen. Ja, so machen wir‘s!

Der Bus fuhr uns herum. Erster Halt war an der Newa, dem Fluss, der an seiner Mündung so breit wird, dass man sich am Meer wähnt. Im Innenhafen steht der Panzerkreuzer Aurora, dessen Schüsse den Auftakt zur Russischen Revulotion 1917 gaben. Ich hatte einem Daheimgebliebenen versprochen, einen alten Armeemantel mitzubringen. Auf dem Markt vor dem Schiff gab es diese, für den Wahnsinnspreis von 20 US-$ erstand ich einen. Währenddessen wurde ich schon gezeichnet. Der Künstler sprach hervorragend deutsch, zeichnete eine gelungene Karikatur und wollte 5 DM von mir. Darüber brauchte man damals nicht zu überlegen. Die Anderen kamen vom Schiff zurück, der Bus fuhr weiter. Ich hatte es nicht von innen gesehen.

Wir fuhren zur Isaaks-Kathedrale auf dem Nevski Prospekt, voll mit Mosaiken und Ikonen. Hinter einer Säule versteckt machten wir heimlich Fotos vom Innenraum, als die Aufpasserin nicht schaute. Die Erlaubnis zum knipsen kostete 8 US-$.

Isaaks-Kathedrale (offiziell nur mit Foto-Lizenz zu knipsen)



Der Nachmittag stand zur freien Verfügung. Wir legten uns erstmal in den Park. So langsam hatten wir das Gefühl, völlig underdressed zu sein. Wir hatten unsere Klamotten nach dem Motto gewählt, dass man uns die Devisen nicht ansieht und die Stücke auch klauen könnte. Die jungen Russen trugen schwarze Jeans, T-Shirts der angesagten Grunge-Bands, Rollerblades und Walkman.

Wenn man planlos durch eine Stadt schlendert, entdeckt man die kuriosesten Sachen. Rentner standen am Rand und boten ihre Habe an: Decken, Wecker, Tücher, Hemden. Mit beiden Händen hielten sie Textilien hoch, oder streckten sie aus. Urplötzlich verschränkten sie die Arme und standen zum Plausch zusammen. Wo war die Ware, wozu die plötzliche Änderung, und hatte das mit uns zu tun? Wir warteten am Rand und schauten was los war. Hinter uns kamen Polizisten vorbei. Als sie weiter waren, boten die Babuschkas wieder ihre Habe an. Es mag lustig wirken, hinterließ aber einen bitteren Nachgeschmack.

Auf einer Brücke sah ich einen Obdachlosen seine Hand ausstrecken. Ich ging zu ihm, schenkte ihm mein Lunchpaket - die ganze Tüte, mit Gurke und Cola. Er sah hinein, roch daran, rief mich zurück. Er schüttelte meine Hand, immer und immer wieder, ich spürte seine raue, dicke Haut, sogar ein Küsschen auf meine Hand deutete er an. Ich war froh, die Tüte los zu sein und ihn glücklich machen zu können. Was es für ihn bedeutete, werde ich wohl nie erahnen können.

Auf den Straßen liefen viele Uniformierte herum: Militar, Marine, Polizei, Miliz. Die Autos waren meist einheimischer Bauart, manchen fehlen Teile wie Kotflügel oder Tür, aber Hauptsache sie fuhren. Dazwischen sah man immer wieder deutsche Autos, 3er-Golf, Mercedes oder BMW. Bei einzelnen prangte neben dem russischen Nummernschild noch ein D-Aufkleber.


in Teil 2:
Kinder zeichnen besser als wir, Einheimische laden uns zum trinken ein und so sieht ein Gewehrlauf von innen aus

 

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